Leben im Industriegebiet

Steckbrief
Lage: Obergeschoss eines Bürogebäudes in einem Industriegebiet
Nutzung: Atelier, Wohnen
Haustyp: Bürogebäude, etwa 60er Jahre
Frühere Nutzung: Büro, Gewerbe
Wohnfläche: 500 m²
Räume: 13 Zimmer, 1 Küche, 1 Duschbad
Wohneinheiten: 1, Wohngemeinschaft
Bewohner:innenschaft: 12 Personen
Besitzverhältnis: Miete, Gewerbemietvertrag

Inmitten eines Industrie- und Gewerbegebiets, welches geprägt ist von Verkehr, KFZ-Werkstätten und Autohändlern, wohnen 12 junge Kreativschaffende gemeinsam in einer Wohngemeinschaft auf ca. 500m2. Seit 2016 besteht die WG, die das gesamte oberste Stockwerk eines ehemaligen und großteils leerstehenden Bürogebäudes umfasst.
Wände wurden eingezogen, Wasseranschluss an der richtigen Stelle installiert und eine Dusche eingebaut, sodass sich der Büroraum zum vielseitig nutzbaren Wohnraum und Arbeitsort angeeignet wurde und so an die Anforderungen der Bewohnenden angepasst wurde (Link Grundrisse). So gibt es neben den 12 Zimmern einen großen Gemeinschaftsraum mit Küche, ein Badezimmer im Hausflur und einen Balkon, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckt.
Wenn möglich, wird alles selbst repariert, um unabhängig von Handwerkern oder anderen Außenstehenden zu sein und nicht aufzufallen. Das Wohnen im Industrie- und Gewerbegebiet liegt nicht unbedingt im legalen Rahmen. Angemeldet als Atelier bewegt sich die Wohnsituation in einer Grauzone, durch ihren gewerblichen Mietvertrag zahlen die Bewohnenden zwar eine sehr geringe Miete, haben jedoch keinerlei Mieter:innenrechte (Link Factsheet).
Falls doch mal jemand in die Wohnung muss, wird sie getarnt. Außerdem gibt es noch andere Vereinbarungen, um nicht zu sehr aufzufallen.
Die besondere Situation des „Atelier-Wohnens“ in einem Industriegebiet verlangt zwar von den Bewohnenden, ein paar Abstriche zu machen, jedoch haben sich alle Mitbewohner*innen sehr bewusst für diese Art des Wohnens entschieden, die auf den ersten Blick für viele Außenstehende unvorstellbar wirkt. Worin liegt also die Motivation, sich für eine auf den ersten Blick prekär scheinende Wohnform zu entscheiden?
Was macht das „gute Wohnen“ aus? Was bedeutet „Luxus“? Für M. ist das nicht das pittoreske Stadtflair oder der tolle Altbau mit renoviertem Badezimmer, sondern vielmehr die ganzen Freiheiten, die er durch seine besondere Wohnsituation gewinnt.
Vor allem durch den vielen verfügbaren Raum, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnfläche ergeben sich viele Freiheiten, die in einer „normalen“ Wohnform nicht bestehen würden. Die Bewohnenden haben so die Möglichkeit, ihr Wohnen, Arbeiten und Freizeit sehr frei zu gestalten: über einen Tag hinweg können sich zahlreiche unterschiedliche Nutzungen in der Wohngemeinschaft abspielen (Link Tagesablauf). Auch hier wird das Bedürfnis nach Unabhängigkeit deutlich. Im Gegensatz zu regulierten innerstädtischen Nachbarschaften gibt es hier Platz zum Experimentieren, kreativ und laut sein, zum Entdecken, zum Aneignen.
Diese besonderen Qualitäten sind jedoch nicht auf den ersten Blick erkennbar. Erst durch ein tieferes Eintauchen, das Einnehmen einer Innenperspektive wird die Vielschichtigkeit des Ortes deutlich (Link Ebenen).
Neben dieser WG finden sich noch viele weitere ähnliche Beispiele in unmittelbarer Nähe. Diese Wohngemeinschaften sind eng verzahnt mit dortigen Vereinen, soziokulturellen Projekten, Clubs, Kunstzentren und Ateliergemeinden: „Das ist irgendwie einfach trotzdem voll die Nachbarschaft hier! Das ist voll genial, man kennt dann halt auch schnell alle Gesichter. Es passieren super viele spannende und kreative Sachen hier und man ist dann dadurch viel näher dran. Das ist halt was anderes als in der Stadt in eine Bar zu gehen und den Besitzer nicht zu kennen.“
Durch das Zusammenkommen und vernetzte Miteinander im öffentlichen Raum scheint es, als würde sich der Wohnraum der einzelnen WGs über die eigentliche Wohnung hinaus erstrecken.

Rabea Ellersiek / Paulina Gilsbach / Paulina Krebs/ Jan Wagner – HCU 2024. Lizenz: CC BY-NC-SA

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Interview: Unregulierter Raum

„Ich gehe lieber hier spazieren, wo alles ein wenig unklar ist und ich mich bewegen kann, wie ich möchte, als dass ich in der Stadt spaziere und jeden Moment auf irgendeinem Privatgrund stehe. Das ist für mich nicht lebenswert. Hier habe ich ein ganz anderes Gefühl von Freiheit.
Das Besondere an diesem Ort ist, dass man hier frei rumlaufen kann und an so ganz komische Ecken kom…

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